Ein neuer Anfang wars am Ende nicht

Buchumschlag

Mit dem Konkurs der letzten Bremer Großwerft wurden 2.500 Arbeitsplätze vernichtet und die ehemaligen Beschäftigten in eine Welt entlassen, in der sie sich nur schlecht zurechtfinden konnten. Zehn Jahre nach dieser Pleite war es an der Zeit, danach zu fragen, wie es um die Gesundheit und die Perspektiven der ehemaligen Vulkanesen inzwischen bestellt ist. Die Antwort auf diese Frage findet sich in der vorliegenden Veröffentlichung. Es zeigt sich, dass weiterhin vor allem die Älteren die Leidtragenden des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft sind. Sie werden allein gelassen und ein großer Teil wird krank – als Folge einer auf gesundheitlichem Verschleiß beruhenden Produktionsweise.

Beschreibung

Vor gut 100 Jahren, 1895, hat H.G. Wells seinen Science Fiction-Roman „Die Zeitmaschine“ veröffentlicht. Darin trifft ein Zeitreisender in ferner Zukunft auf zwei Formen von Menschen. An der Oberfläche der Erde leben in paradiesischer Umgebung, ohne dafür arbeiten zu müssen, die jugendlichen Eloi. In unterirdischen Höhlen hausen die körperlich deformierten Morlocks, um dort Maschinen zu betreiben und für den Wohlstand der Eloi zu sorgen. Wells war auch Historiker und Soziologe, seine Romane waren zeitgeschichtliche Diagnosen und natürlich spielt er mit der Gegenüberstellung der Eloi und Morlocks auf die Klassenkonflikte des Frühkapitalismus an. Der Topos ist – die Zeitmaschine deutet es an – zeitlos. Schon den alten Griechen galt es als selbstverständlich, dass man als Bürger nur frei sein konnte, wenn man nicht durch körperlich schwere Arbeit für seinen Lebensunterhalt sorgen musste. Dafür waren Sklaven da. Und heute? Das Buch „Ein neuer Anfang wars am Ende nicht“ einer Bremer Autorengruppe um Wolfgang Hien erinnert uns eindringlich daran, dass auch unter der glitzernden Oberfläche unseres Wohlstands eine Welt der Ausbeutung, der Zerstörung von Gesundheit und Leben und der Verweigerung von Menschenwürde existiert. Vieles davon ist heute in die Weltmarktfabriken der großen Konzerne in die Dritte Welt ausgelagert, unsichtbar für uns, trotz aller Nachrichten, die täglich den Globus umkreisen. Aber es gibt den wirtschaftlichen „Verbrauch“ von Menschen nach wie vor auch in Deutschland, fast genauso unsichtbar, jedenfalls nicht präsent in den Schlagzeilen der Nachrichtensendungen. Unter dem hoffnungsvollen Titel „Am Ende ein neuer Anfang“ haben Wolfgang Hien et al. Ende der 90er Jahre die leidvolle Lebenssituation der arbeitslos gewordenen „Vulkanesen“, der Arbeiter der bankrotten Bremer Großwerft Vulkan beschrieben, ihre gesundheitliche Zerrüttung in jahrzehntelanger Schwerstarbeit. Damals schien es trotz allem ein Leben nach dem Vulkan zu geben. Diese Hoffnung ist für viele der Betroffenen, wie das neue Buch von Hien et al. zeigt, nicht aufgegangen. 10 Jahre nach dem Schließen der Werft sind die Autor/innen in einer Studie noch einmal dem Schicksal der Vulkanesen nachgegangen. Ihr Material haben sie über eine Fragebogenerhebung und vertiefende Interviews erhoben. Ihre Ergebnisse stellen die Altersgruppe der 50-59-Jährigen als besonders betroffene Gruppe heraus, zu alt und oft zu krank, um Arbeit zu bekommen, zu jung, um in Rente gehen zu dürfen. Viele der ehemaligen Vulkanesen leiden unter Depressionen, oft verbunden mit schweren Rückenschmerzen, auffällig hoch sind Raten der an Herzkreislaufbeschwerden und Krebs Erkrankten. Die Autor/innen belegen, wie stark auch die Familien der Arbeiter mitbetroffen sind, dass es sich stets um Familienkatastrophen handelt. Abschließend gruppieren die Autorinnen die Betroffenen in drei Muster unterschiedlicher Bewältigungsformen und untersuchen, welche Faktoren mutmaßlich zu diesen Bewältigungsmustern führen. Sie problematisieren dabei auch die Fixierung vieler – meist männlicher – Vulkanesen auf die Erwerbsarbeit, eine Fixierung, die in der Identifikation von Lebenssinn und Arbeit die Bewältigung der Krise erschwert. Ein wichtiger Befund der Studie ist die Beschreibung des gesellschaftlichen Umgangs mit den Vulkanesen. In den Interviews arbeiten die Autor/innen heraus, wie die Betroffenen darunter leiden, dass sie beim Arbeitsamt oder bei Ärzten wahlweise als nutzloser Ausschuss oder als Simulanten behandelt werden. Sie leiden darunter, dass ihnen von der Gesellschaft keine Anteilnahme entgegengebracht wird, dass sie keine Solidarität erfahren, obwohl sie doch ihre Gesundheit in der Arbeit, also für die Gesellschaft geopfert haben. Sie sind die Morlocks, die wir alle nicht sehen wollen, schließlich ist es viel schöner, in lichtdurchfluteten Ausstellungshallen immer neue Exportrekorde zu feiern - und auch in der betrieblichen Gesundheitsförderung hält man lieber Modellprojekte eines harmonischen Miteinanders von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hoch als sich um die Parias der Arbeitsgesellschaft zu kümmern. Erfreulicherweise gibt es viele, vielleicht zunehmend viele Betriebe, in denen die Beschäftigten gut behandelt werden, in denen ihre Gesundheit geschützt wird und die Arbeit sogar als Feld der Selbstverwirklichung fungiert. Die stetig wachsende Lebenserwartung mag ein Beleg dafür sein, dass es insgesamt nicht schlecht um die Dinge steht. Aber dass unser Wohlstand generell keine Menschenleben kostet, dass er keinen Preis hat, dürfte die eigentlich aufdringliche Form von Simulation beim Thema Arbeit und Gesundheit sein. Angesichts der Zustände, die das Buch beschreibt, ist es müßig, sich methodisch mit der Studie auseinanderzusetzen. Natürlich könnte man da und dort Defizite des Studiendesigns oder der Auswertung monieren, natürlich könnte man bemängeln, dass die Interpretation der Ergebnisse manchmal etwas ins Grundsätzlich-Philosophische überhöht wird, dass die Autor/innen manchmal bei der Kommentierung der sozialstaatlichen Strukturen zu sehr in Schwarz-Weiß-Malerei verfallen, vielleicht überwältigt von ihrem Material, und so genauso fatalistisch wie die Betroffenen auch manche Handlungsmöglichkeit und hoffnungsvolle Perspektive übersehen. Aber das wäre keine angemessene Ebene des Umgangs mit diesem Buch. Das von den Autor/innen vorgelegte Material spricht für sich in einer Weise, die aufrütteln sollte. Es wäre sehr zu wünschen, wenn die Autor/innen in einer dritten Vulkan-Studie dieses Material breiter vorstellen könnten, als Dokumentation der Lebensgeschichte und Lebenssituation von Arbeitern in einer ehemals wichtigen Industriebranche, der nicht nur Bremen lange Zeit einen spürbaren Teil seines Bruttosozialprodukts zu verdanken hatte. Es wäre ebenso zu wünschen, dass dieses Buch dazu beiträgt, die Bremer Vulkanesen nicht vorschnell dem Vergessen anheim zu geben. Sie sind nicht die einzigen Morlocks unserer Gesellschaft, es gibt viele mehr, in Drückerkolonnen, auf dem Bau, im Bewachungsgewerbe. Die Vulkanesen stehen stellvertretend für eine offene Wunde unseres Wirtschaftssystems. Bei H.G. Wells stellt sich am Ende heraus, dass auch das Verdrängen seinen Preis hat. Nachts kommen die Morlocks nach oben an die Oberfläche, um sich ihre Mahlzeiten zu holen: die Eloi. Auch wir bezahlen mit einem Teil unserer Menschlichkeit für unser Wegsehen. Das Buch ist unbedingt zu empfehlen, der Preis ist mit 6,80 Euro zudem so gering, dass dies keine Ausrede sein kann, es nicht gelesen zu haben.
Joseph Kuhn, Dachau

Autor

Wolfgang Hien, Rolf Spalek, Ralph Joussen, Gudrun Funk, Renate von Schilling, Uwe Helmert

Verlag

VSA-Verlag, Hamburg

Version

2007

Preis

6,80

ISBN

978-3-89965-268-0